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Zentrales Besprechungsorgan von keinVerlag.de Ausgabe 173/2008 - Mi., 10. Sep 2008
Warten auf das Ende des Wartens
Traian Pop Traian: Schöne Aussichten. Poem in drei Akten, fünf Bildern und einem Prolog. Rimbach (Verlag im Wald), 2005 - Eine Rezension von Bergmann

Bibliografische Daten:
Verlag: Verlag im Wald
Ort: Rimbach
Erscheinungsjahr: 2005
Preis: 12,20 Euro
ISBN: 3929208784

ER und SIE und zwei andere Personen treiben ein existentielles Spiel: das Leben... Das Stück erinnert in seiner Absurdität an Becketts "Warten auf Godot". 69 Seiten
Der Titel ist nur vordergründig ironisch. Es geht in Wirklichkeit um den Sinn unseres Lebens. Unsere Aussichten sind gering, wenn wir so weitermachen wie bisher – wir sehen nicht viel, wir sind blind und leben nur von Hoffnungen, die uns nicht nähren. Aber das Stück will die Ironie überwinden, es will Klarheit schaffen, es will in uns hineinschauen, damit wir überhaupt Aussichten haben. Wenn es sie gibt.

Die Ausgangssituation der Menschen ist schon zu Beginn des Stücks aussichtslos: Er und Sie sitzen Rücken an Rücken auf Stühlen, sehen in verschiedene Richtungen und verstehen sich nicht – eine Anspielung auf den Geschlechterkampf und das Problem, wie schwer Verständnis und Solidarität schon in der kleinsten gesellschaftlichen Einheit ist. „Der Schaum des Abends ist fort“, sagt Er (S. 9) – jetzt wird es dunkel, die Nacht der geistigen Blindheit ist nah. Wird es da noch einmal Tag? Und was ist hinter den grauen Wänden, die auf der Bühne stehen? Ist es die Realität, die so oft in den Dialogen beschworen wird, oder das Nichts? Der Zuschauer wird es nie erfahren. Er ist wie die dramatischen Personen ausgesetzt in der erlebten Wirklichkeit und muss warten auf eine andere Wirklichkeit, die aber nur kommt, wenn wir sie selber erschaffen. Dieses Warten auf Licht erinnert in den Dialogen an Becketts Stück „Warten auf Godot“.
Er sagt zu ihr: „Suchst du immer noch? Allein oder mit mir gemeinsam? … Mit uns gemeinsam.“ Der Mann glaubt nicht an die Suche, aber auch er steht einer Wand gegenüber, die er nicht versteht. Wahrscheinlich meint Traian Pop mit dieser Wand nicht nur die metaphysische Leere, sondern die Erkenntnisunfähigkeit, in der wir einsam sind. Uns holt kein Gott ab, es sei denn, wir erfinden ihn. Ich denke, Pop’s Skepsis ist nicht religiös orientiert. Im Scheitern seiner Figuren scheint der Gedanke auf, dass nur wir uns eine Bestimmung geben können. Daher auch die leeren Rahmen an der Wand, es gibt keine (religiösen) Vor-Bilder, sondern nur Fenster ins Leere. Schöne Aussichten! Es gibt nur die Horizonte der metaphysischen Leere, die jenseits unserer Vorstellungen liegen.

„Ich bin auf andere zugegangen und bei mir selbst angekommen.“, sagt Er. Nosce te ipsum! Aber Er meint keine erfolgreiche Ankunft, denn er wird nur auf sich selbst zurückgeworfen, und er fügt hinzu: „Ich erreiche mich nie, die Welt nie.“ (S. 16) Er tröstet Sie, indem er auf die metaphysische Leere hinter der grauen Wand hinweist: „… da drüben bereitet sich etwas vor… für unsere Rettung“ (S. 21), aber dieses Drüben kann nur in uns selbst liegen, und das sagt Er dann auch: „diese neue Zeit zu verwirklichen sind wir aufgerufen: Aufstieg zum Rang eines Menschen“ (S. 23) – vergebens: Diesen Weg, der an Nietzsches Geburt des Menschen in „Also sprach Zarathustra“ erinnert, gehen beide nicht. Dieser Weg erscheint ohnehin ironisiert: „Die starke, freie, schöne Frau, die Auserwählte des Aufrechten“ (S. 39f.). Er ‚unterwirft’ sich ihr dann, während der Dienstmann schläft – vielleicht sind dies Anspielungen auf die Ideologien der Diktatoren in der faschistischen und totalitären Zeit des 20. Jahrhunderts (Hitler, Franco, Stalin, Ceausescu), wenn man bedenkt, dass Traian Pop sein „Poem“ 1986 schrieb, drei Jahre vor dem Sturz des rumänischen Diktatoren-Ehepaars.
Er und Sie bewerfen sich mit Dreck. Ihre Selbstreinigung – mit Wischlappen, Besen und Eimer – misslingt wieder. Das ist vielleicht auch eine Anspielung auf die Katharsis der klassischen Tragödie, die hier in der Absurdität des Seins unmöglich geworden ist. Tragik gibt es nicht, nur die Faktizität eines widersprüchlichen und absurden Seins. An die Stelle der klassischen Katharsis treten heute Verbandszeug und Medikamente zur Behandlung der gegenseitig zugefügten Wunden, oder eben Putzmittel. Das Scheitern im ersten Akt gipfelt in einer absurden Szene, in der Er einen Schnuller auf der Stirn trägt, als Zeichen seiner Unreife. Es folgt die Entkleidung des Dienstmanns – er wird auf die Infantilität des Paars reduziert, als wolle man die übrige Gesellschaft und ihre Moral der eigenen Wirklichkeit anpassen. Nach einem Handgemenge der drei Figuren bleibt zuletzt der Dienstmann allein auf der Bühne und sagt zum Publikum, es sei Komplize der eben gesehenen Sauerei geworden (S. 27). Auch die Sprache, die nicht heilt (nicht zu Erkenntnissen führt), ist ohnmächtig: „Ach, wie sehr wir uns doch von Worten verführen lassen“, sagt Sie (S. 32). Manche Sätze in dieser Szene erinnern an das Scheitern der Sprache in Ionescos Anti-Stück „Die kahle Sängerin“.

Eine eigentümliche Rolle spielt der Dienstmann, eine dritte Figur, mit der Er und Sie konfrontiert sind. Manchmal spielen sie mit dem Dienstmann, manchmal spielt der Dienstmann mit den beiden. Mal scheint er der Repräsentant einer politischen Ordnung, eines Systems, einer Ideologie oder Moral zu sein, mal verkörpert er den Machttrieb des Systems und die Triebe der Einzelnen, im Widerspruch zu seinem Namen dient und vermittelt er nicht. Die drei Figuren werden nie solidarisch.

Im zweiten Akt reinigen Er und Sie unter Aufsicht des Dienstmanns ihre graue Wirklichkeit – wieder umsonst. Ein geöffnetes Fenster in der Wand ironisiert die Erkenntnis-Aussichten. Er sagt: „Die Wirklichkeit träumt sich selbst, wo auch immer in der Wirklichkeit. Auch sie ist eine Gefangene ihrer Träume.“ (S. 34) Dieser Satz vermittelt die Erkenntnis der Erkenntnisunfähigkeit und will sagen: Wir sind handlungsunfähig. Die Natur, zu der wir gehören, können wir unserem Willen, den es nicht gibt, da er Bestandteil der naturgesetzlichen Zufälle im Rahmen der Wahrscheinlichkeit ist, nicht unterwerfen. Wir können uns selbst nicht gestalten: „Ich träume mich selbst“, sagt Er (S. 35) – und: „Unsere Kindheit verfliegt in der Atempause zwischen zwei Wahrheiten, Entschuldigung, zwischen zwei Wörtern.“ (S. 32) Angesichts der Sprachohnmacht ergibt sich hier ganz von allein die Antwort auf die Frage: „Musst du dem Leben einen Sinn geben? … Nein.“, sagt Er sich selbst (S. 36). Trotzdem spricht er von dem „Geheimnis der Freiheit“ (S. 37). Dieser Widerspruch wird im Stück nicht aufgelöst.

In der vierten Szene (zweiter Akt) werden die politischen Anspielungen deutlicher: Das Lob des Frühlings wird vom Dienstmann barsch unterbunden mit dem nun oft wiederholten Satz: „Ruhe bitte! Wir räumen den Saal!“ Der Dienstmann, hier offenkundig Repräsentant der Macht, beißt Ihn und Sie wie ein Hund und schließt das Fenster zur Schönen Aussicht, scheint aber keine wirkliche Macht mehr zu haben. Er und Sie philosophieren über die Freiheit: „Schlechter als hier kann es nirgendwo sein“ (S. 49) – darauf folgt wieder der Satz „Ruhe bitte!...“ Die Freiheitsliebenden wirken resignativ, Er sagt: „Ich sehe, dass ich nichts sehe.“ (S. 53) und Sie: „Vielleicht existiert nichts … außer meiner kranken Fantasie, welche die Welt verschönern will.“ (S. 56) Das vierte Bild endet in Lüge, Langeweile, Nichts.

Der dritte Akt (5. Bild) zeigt andere Lösungsversuche. In einer traumartigen Sphäre umtanzen Er und Sie den Dienstmann, um ihn für sich zu gewinnen. Nun sind beide Fenster geöffnet. Die Kontrolle über die hermetische Wand, die jetzt auch eine Öffnung zur vermeintlich freien Welt bedeuten kann, ist offenbar schwächer geworden. Alle Handlungen, den Dienstmann oder das System zu erweichen, scheitern. Das System reagiert nicht mehr, es gibt keine Entwicklung, alles stagniert. Das erinnert an Franz Kafkas großartige Parabel „Vor dem Gesetz“ aus dem Roman „Der Prozess“, wo der alt gewordene Mann vom Lande, der dem übermächtig erscheinenden Türhüter gegenübersteht, nur durch die für ihn gemachte Tür zum Gesetz gehen müsste. Aber er tut es nicht, weil er nicht kann, weil er sich nicht traut.
Er fragt nun den Dienstmann: „He du, erlaubst du mir tatsächlich, dass ich mir selbst genüge?“ (S. 66) Es ist die Erkenntnis: Wenn ich mich selbst öffne, die graue Wand in mir niederreiße, auch wenn sie ins Leere führt, bin ich frei und fähig zur gesellschaftlichen Freiheit mit anderen. Die politische Solidarität ist wichtiger als die private: Als Er Sie an sich zu binden sucht, entgegnet Sie: „Ich brauche dich nicht unbedingt. Ich bin mit mir als fleißigem Rädchen mehr als zufrieden.“ (S. 67) Das Bündnis gegen das unterdrückende System aber brauchen sie beide! Diese Solidarität gelingt: Sie werfen den Dienstmann kurzerhand aus dem Fenster.

Zum Schluss bieten Er und Sie sich gegenseitig den frei gewordenen Stuhl der Macht an. Dann besetzen sie ihn beide und teilen sich die Macht – ein humorvoller Abschluss mit doppelter Bedeutung: Seid demokratisch, als Paar und als Gesellschaft!
Aber dann verrätselt Traian Pop den Schluss: Es gibt nun doch eine transzendente Macht! Eine nicht erkennbare Person steigt auf die Bühne und legt dem Paar, dem Keim der neuen Gesellschaft, das Reinigungszeug zu Füßen… Aber es ist nicht Gott. Vielleicht sammelt der Autor die Requisiten in einer letzten symbolischen Handlung ein. Der Autor steigt als Deus ex machina von seinem Gedankenhimmel herab! Da spielt Gott, pardon, der Autor, mit sich selbst, oder der neue Mensch, oder der bessere Dienstmann… egal, das perpetuum mobile der Geschichte von Herren und Knechten kann nun wieder beginnen. Wenn wir Glück haben, auf etwas höherem Niveau für die neuen Knechte, die jetzt etwas freier sind. Den Schluss sehe ich als humorvolle Liebeserklärung an die Macht des Geistes und Hegels List der Geschichte, die Karl Marx auf die Füße seines Historischen Materialismus stellt. Gesehen haben wir, wie der Motor der Bewegung funktioniert – mit dem Opium des Dialektischen Materialismus.




Fazit:
Das Stück ist abendfüllend. Indem die Handlung ausschließlich aus philosophischen Metaphern besteht, ermüdet das Stück den Zuschauer schnell. Es ist in jedem Fall zu lang und wäre besser eingebettet in eine konkrete Handlung unseres Alltags mit einem real existierenden ethischen Problem, das die Aufmerksamkeit des Zuschauers fesselt, das noch viel genauer die Identifikation mit den dramatischen Personen ermöglicht, und damit eben auch den Denkprozess veranschaulicht. Die Botschaften des Stücks sind einfach. So einfach sind die gesellschaftlichen Probleme nicht. Die theatralischen Mittel und die philosophische Didaktik erinnern sehr an Samuel Becketts „Warten auf Godot“, sprachlich stellenweise auch an Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ und Eugène Ionescos „Kahle Sängerin“.

In seinen Figuren ohne Biographie und ohne klare Identität multipliziert und dividiert sich der Autor, um seine Thesen zu demonstrieren. Das ist die einzige Berechtigung dieser künstlichen Kreaturen: Nicht ihr aussichtsloses Leben zu leben oder zu ändern, sondern Boten des Autors zu sein. Ohne authentische Sprache, nur in der Parabel und Allegorie verharrend, kann das Wachsfigurenkabinett (Er, Sie, Dienstmann) nicht wirklich überzeugen.

Traian Pops Stück ist eine konsequent säkularisierte Tragödie, die Aufhebung des Tragischen im Komischen, im Absurden. Vielleicht bleibt uns die eingebildete Freiheit, die wir gewinnen, indem wir trotzdem handeln und nicht mehr, sinnlos, auf uns warten! Wir selbst sind die Realität, die erlebte und die mögliche. Schöne Aussichten? Relativ gesehen: Ja!

Ulrich Bergmann
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